Vielleicht Jetzt
Damit ich heute wenigstens zum Laufen kam, hatte ich mir meine Sportsachen in den großen, grauen Rucksack gepackt, den ich mir gemeinsam mit Olivia bei einem unserer Shoppingtrips durch die gigantische Gávea Mall in Rio gekauft hatte. Mittlerweile sah er etwas mitgenommen aus, was aber daran lag, dass ich ihn am liebsten benutzte. Weil alles hineinpasste, was ich wirklich brauchte. Und weil er mich an einen perfekten Tag mit meiner besten Freundin erinnerte.
Vermisse dich, schrieb ich ihr schnell, bevor ich das Gelände von Leckerste betrat. Eine Sprachnachricht mit einem kleinen Update würde ich ihr heute Abend schicken.
»Guten Morgen«, flötete ich, als mir Till auf dem langen Flur auf dem Weg in die Küche begegnete.
Er grunzte irritiert. »Du bist ja gut gelaunt.«
»Wann bin ich das nicht?«, fragte ich lachend, woraufhin er nur zustimmend brummte. »Willst du eine Portion abhaben?«
»Danke. Verzichte.« Obwohl er sich redlich bemühte, registrierte ich es dennoch um seine Lippen zucken. Ha! Erwischt!
Triumphierend bog ich um die Ecke und marschierte in die Umkleidekabine. Dort war alles leer, es roch nach abgestandener Luft und die Hitze hatte sich über die letzten Tage wie unter einer Glocke in dem kleinen Raum gesammelt. Rasch zog ich mich um, band mir meine Haare in einen geflochtenen Zopf und ging in die Küche, wo bereits Anton und Till an den ersten Vorbereitungen für den heutigen Tag waren. Es klopfte an der Außentür zum Warenlager und Till nahm die Einkäufe entgegen, während Anton mir freundlich zunickte.
»Na, wie gehts dir?«
»Prima«, erwiderte ich und lächelte. Weil es stimmte. Langsam fühlte ich mich nicht mehr wie Bambi bei seinen ersten Gehversuchen, sondern angekommen. Als ob ich endlich Boden unter den Füßen fand.
»Ja, dass merkt man«, murmelte Anton und ein Funkeln stand in seinen meerblauen Augen. Ein warmes Prickeln wanderte meine Wirbelsäule entlang und ich spürte. Er zögerte. Aber nur kurz. »Schön, dass du da bist.«
»Hey«, sagte ich und deutete auf seinen sich nach oben neigenden Mundwinkel. »Ist das etwa ein Lächeln?«, neckte ich ihn, woraufhin er mir einen schrägen Blick zuwarf, den Kopf schüttelte und das Lächeln vertiefte. Verdammt. Ihn lächeln zu sehen stellte ganz seltsame Dinge mit mir an. Allen voran verspürte ich das dringende Bedürfnis es schnellstmöglich wieder aus ihm herauszukitzeln, nur, damit ich es nochmal sah.
Und nochmal.
Und nochmal.
***
»Was… wolltest du denn sagen, bevor wir unterbrochen wurden?«
Antons Kehlkopf hüpfte auf und ab, als er schluckte, mit sich rang. Er schien einen inneren Kampf auszufechten.
Und dann sah ich es. Die Veränderung, die in seinen Augen stattfand. Das warme Leuchten wich wieder dieser unnatürlichen Stumpfheit, als hätte sich ein grauer Filter vor die Iris gelegt. Auch seine ganze Haltung veränderte sich, wurde abweisender. Angefangen vor dem kleinen Schritt zurück, bis hin zu den geballten Fäusten.
Anton schüttelte den Kopf. »Nichts … Ist nicht so wichtig. Lass uns nicht mehr darüber reden.«
»Sicher? Ich hatte …«
»Sicher«, unterbrach er mich, sanft, aber bestimmt.
Seine Zurückweisung kränkte mich, obwohl sie mich eigentlich nicht kränken sollte. Im Grunde hatte ich kein Anrecht darauf zu erfahren, was bei ihm los war. Es war einfach nur mein unendlich doofes Helfersyndrom, das mal wieder durchschien und darum bettelte, jemandem zur Seite zu stehen.
***
Sein Gesichtsausdruck war zwar nicht abweisend, aber neutral. Als würde er mit einem Computer sprechen und nicht mit mir. Sobald wir jedoch alles saubergemacht und aufgeräumt hatten, veränderte sich sein Tonfall und seine Haltung. Alles wurde freundlicher, so, als müsste er sich während der Arbeitszeiten zu einer notwendigen Distanz zwingen.
Mir ging es ähnlich, auch wenn ich darum bemüht war, mir nichts anmerken zu lassen. Ich machte meine Scherze und war immer gut gelaunt. Till und Gerd tauten nur langsam auf, aber hier und da meinte ich zwischen den ernsten Befehlen und gebellten Anweisungen so etwas wie Freundlichkeit durchschimmern zu sehen.
Aber Antons Nähe… Antons Nähe machte es schwierig, sich auf die Arbeitsanweisungen zu konzentrieren. Selbst als Karla nach hinten kam, um Besteck und Gläser zu polieren, nachdem sie durch die Spülmaschine gelaufen waren, machte es nicht besser. Im Gegenteil. Sie schürzte mit einem wissenden Lächeln die Lippen und schaute bedeutungsvoll zwischen Anton und mir hin und her, sobald dieser uns für fünf Minuten den Rücken zukehrte.
»Sag bitte nichts«, flüsterte ich.
»Ich sage nichts, aber deine Herzchenaugen sprechen eine ganz eindeutige Sprache«, rechtfertigte sie sich mit gesenkter Stimme und versenkte das saubere Geschirrtuch in einem stilvollen Cocktailglas, um die Ränder von Schlieren zu befreien.
»Herzchenaugen?«, fragte ich, weil ich mir unter dem Begriff nichts vorstellen konnte.
»Na, so.« Karlas Grinsen verwandelte sich eine niedliche Schnute, die mich an Olivias letzten gesendeten GIF erinnerte. Der gestiefelte Kater aus Shrek.
»So schaue ich?«
»Immer nur wenn Mr.-Ich-bin-wortkarg in der Nähe ist.«
Vielleicht Nie
Trotzdem war da diese leise Stimme in mir, die sich fragte, ob Kilian nicht der richtige Typ war, um das Thema Eisklotz ein für alle Mal an den Nagel zu hängen. War es moralisch verwerflich, dass ich mir ausmalte, er sei derjenige, mit dem ich Sex hatte? Oh Gott. Was würde Karla sagen?
Das schlechte Gewissen drohte mich wie eine Welle zu überschwemmen.
Würde sie mir die Freundschaft kündigen? Oder darüber lachen, sich die Ohren zuhalten und so tun, als wäre das alles nur ein großartiger, schräger Witz?
Mist. Die Chemie zwischen Kilian und mir stimmte eindeutig. Ja, wir stritten uns. Ja, es ging zur Sache. Aber diese Leidenschaft, die da zwischen uns herrschte, brachte mich völlig aus dem Konzept. Weil sie nicht greifbar war. Ich konnte sie nicht abstempeln und in eine Kiste packen, mit einer schönen Aufschrift versehen und so tun, als hätte ich die Kontrolle darüber.
Es war die verdammte Büchse der Pandora.
Und ich hatte keine Ahnung, ob ich den Naturgewalten gewachsen war, die mehr zwischen uns auslösen würde…
***
Der Sex war hart und wild. Härter, als sonst. Als ob Kilian wütend wäre, aber das nicht auf eine unangenehme Art, sondern er vergewisserte sich immer, ob ich das, was er vorhatte, auch mochte. Er hielt nichts zurück, genauso wenig wie ich. Aus einem sanften Kratzen wurde ein zärtlicher Biss.
Mit jedem Stoß glitt er tief in mich, bis meine Muskeln vor Anspannung vibrierten und ich das Gefühl hatte, innerlich zu zerspringen. Wir redeten nicht und die Dunkelheit des Zimmer füllte sich mit Keuchen und gestöhnten Lauten, die ihn nur noch mehr anstachelten. Er hauchte meinen Namen an meinen Lippen und sein Atem ging in einen Kuss über, der mich schwerelos machte.
Als wir schließlich völlig erschöpft in seinem Bett lagen, war ich mir sicher, das halbe Haus aufgeweckt zu haben. Ich war ausgelaugt, aber glücklich. Meine Muskeln brannten, wie nach einem perfekten Lauf. Ich drehte mich auf die Seite und betrachtete sein Profil, das im Halbdunkel lag. Mit den Fingerspitzen fuhr ich die Konturen seiner Gesichtszüge nach, Zentimeter für Zentimeter, bis ein tiefer Atemzug seine Brust hob- und senkte, er den Kopf zu mir wandte und der Blick aus seinen Augen mich völlig unerwartet traf.
Kurz hatte ich das Gefühl, dass er etwas sagen wollte, aber er zögerte. Gleichzeitig fiel mir die Furche in seiner Stirn auf, er wirkte nachdenklicher als sonst.
»Komm her«, brummte er und zog mich in Löffelchenstellung an sich, einen Arm um meine Körpermitte geschlungen, den anderen wie ein Kissen unter meinem Kopf gebettet. Es war das erste Mal, dass wir nach dem Sex nackt so richtig kuschelten und ich ertappte mich dabei, dass ich es ein kleines bisschen zu sehr genoss. Das Gefühl, in seinem Arm zu liegen. Als wäre dieser Ort mein Hafen, mein sicherer Hafen, an dem ich einfach sein konnte, wie ich war.
Ein bisschen unsicher, völlig verkorkst, aber trotzdem einfach ich.
Eine Weile lauschte ich seinen regelmäßigen Atemgeräuschen, spürte seinen kräftigen Herzschlag in meinem Rücken und schlief schließlich mit einem zufriedenen Lächeln ein.
Vielleicht Irgendwann
Obwohl wir uns in dem Kühlraum mehr oder weniger ausgesprochen hatten, wollte ich die Situation noch ein bisschen mehr ausbügeln. Das sah mir gar nicht ähnlich. Und das wunderte mich. Denn normalerweise gestand ich Fehler so ungern ein, wie meine Geldprobleme, aber Henning löste in mir das dringende Bedürfnis aus, ihm beizustehen. Ich wollte ihm zeigen, dass ich den immensen Druck in seinem Leben nachfühlen konnte, ohne Mitleid zu haben.
Das Thema Mitleid war in etwa so ein rotes Tuch, wie Pizza Ananas für nonna. Eine Kriegserklärung an ihre Vorfahren und die eigenen Geschmacksknospen, wahrscheinlich sogar ein Grund, eingewiesen zu werden.
Also schnappte ich mir einen Zettel mit dem filigranen Hotellogo, das kleine schmale Päckchen Tiefkühlgemüse und deponierte beides vor Hennings Zimmertür:
Viel Glück für morgen, und denk daran: immer schön draufschlagen.
Keine Ahnung, ob er die Geste für total bescheuert hielt. Und auch das wurmte mich.
Mir was es wichtig, was er von mir dachte. Dass er mich mochte.
Und das war fast gefährlicher, als die Tatsache, dass ich mit dem Gedanken an ihn einschließt und am nächsten Morgen wieder aufwachte.
***
»Danke für die Tiefkühlpackung. Ich musste gerade im richtigen Moment daran denken«, tönte in diesem Augenblick Hennings inzwischen so vertraute Stimme hinter mir und als ich mich umdrehte und meine Hand gegen die tiefstehende Sonne abschirmte, entdeckte ich ihn keine drei Meter von mir entfernt in den Farben seines Rennstalls und mit hellen Jeans und dunkelgrünen Sneakers bekleidet.
Sofort musste ich lächeln, was ich in seiner Gegenwart öfter tat, als gewöhnlich. Als ob er und meine Mundwinkel einen geheimen Pakt geschlossen hatten von dem ich nichts wusste.
Und seltsamerweise störte es mich im Moment auch nicht. Mein Herz drehte einen Extralooping, was ich aber mit der Aufbringung sämtlicher, mentaler Kräfte zu ignorieren wusste. Zumindest für den Augenblick.
***
Es war ein bisschen surreal, dass Henning neben mir im Auto saß, die Hände entspannt im Schoß gefaltet den Blick auf die Fahrbahn vor uns gerichtet. Wir hatten schon gut 200 Kilometer vernichtet und noch einen bisschen was vor uns. Mit jedem Kilometer, den wir zurücklegen, wuchs meine innere Anspannung ein wenig an. Ich hatte, bis auf Felix, einen Typen aus der Parallelklasse, nie einen Freund mit nach Hause gebracht. Vielleicht würde das meine neugierige Mutter ein bisschen besänftigen, zumindest für die nächsten Jahre und ich würde erst im Laufe der Zeit wieder erklären müssen, warum ich es für besser hielt, für mich allein zu sein. Es war nicht so, dass ich mit der Wahrheit hinterm Berg hielt, ich hatte ihr schon ein paarmal gesagt, warum ich keine Beziehung führen wollte, nur hatte ich dabei ein paar Details ausgeklammert, um sie nicht zu verletzen.
»Du bist so schweigsam. Das sieht dir gar nicht ähnlich.« Henning lass mir einen flüchtigen Seitenblick zu, ein Mundwinkel nach oben gezogen. Der schwere Duft seines Aftershaves drang in meine Nase, genauso wie sich die Härchen auf meinen Armen der unbestreitbaren Tatsache bewusst wurde, dass da ein attraktives, männliches Wesen keinen Meter neben mir befand. Meine Hormone klinkten sich ein. Und mein Fortpflanzungstrieb ebenso.
Shit.
Was ich bei der stundenlangen Fahrt nicht kalkuliert hatte, war die Tatsache, dass ich Henning auf gut drei Quadratmeter ausgeliefert war. Hoffnungslos ausgeliefert.
Unruhig rutschte ich auf meinem Sitz nach vorne, während sich meine manikürten Finger fester ums Lenkrad schlossen. Hennings Blick folgte meiner Bewegung, aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie sein Kehlkopf auf- und absprang und verfluchte mich für meine nicht vorhandene Weitsicht.
Irgendetwas war anders. Es lag an der Art, wie er sich mit dem Daumen über die Lippen strich, ehe sich unsere Blicke trafen. Unbestreitbar lag da eine ganz bestimmte Anziehungskraft zwischen uns. Ein Blick und meine Libido wollte sich ins Gefecht stürzen.
***
Die rationale Seite meines Gehirns wusste im Grunde, dass er nur mit mir flirtete, weil es von jetzt an zu unseren Gesprächen dazugehören sollte. Eventuell. Doch ein leiser, wispernder Teil in mir nahm jede Schwingung, jede Veränderung auf und kategorisierte es anders ein.
Warum?
Ich hatte mir doch sonst nichts daraus gemacht, ob ein Typ mehr wollte. Im Gegenteil. Ein mehr war auch mit mehr Verpflichtungen verbunden. Mehr Aufgaben. Mehr Zeit.
Doch etwas in mir fragte sich ernsthaft, was an einem mehr so falsch wäre.
Mehr Gefühl. Mehr Hingabe. Mehr… Liebe?